1 Die Nationale
Wie rechte Linke für die Rückkehr zu nationaler Souveränität und Kleinstaaterei in Europa werben.
Aus welcher Perspektive spreche ich? Ich spreche aus der Perspektive einer analytischen und prognostischen Überforderung. Es ist das begründete Gefühl, das ich von 1989 und den Folgejahren kenne. Damals: der wiedergewonnene Zugriff des Kapitalismus auf die ganze Welt; das Entstehen einer großen Zahl neuer Staaten, oft in blutigen Kämpfen und nach völkischen Kriterien. Dann die deutsche Wiedervereinigung, die ich kurz zuvor noch für einen unrealistischen Traum von Revanchisten gehalten hatte, der Massenjubel und die »Wir sind ein Volk«-Rufe, die in sich bargen, gegen jene wüten zu wollen, die nicht zum Volk gehörten, was sich in Pogromen wie in Rostock oder Hoyerswerda, in Morden wie in Mölln oder Solingen entlud und in der faktischen Abschaffung des Asylrechts politische Bestätigung fand. Damals blickte man in einen Abgrund, wusste nicht, ob es ein Auffangnetz gäbe, und wurde später, als alles doch wieder als irgendwie »normal« galt, des Alarmismus und der Panikmache bezichtigt. Akzeptiert habe ich diese Anschuldigungen nie, denn was man sieht, sieht man, auch wenn es nicht immer aus seiner Latenz sich voll entfaltet.
Genauso bin ich heute wieder alarmiert; da ist etwas in der »westlichen Welt« auf dem Vormarsch, das ich das Faschistoide nennen will, weil das Wort ganz gut ausdrückt, dass es davon recht unterschiedliche Ausprägungen geben kann.
Was für ein Jahr 2016 mit Brexit, Trump, der Entwicklung in der Türkei und auf den Philippinen, wo das Volk einen Massenmörder auf den Schultern trägt. Der unaufhaltbar scheinende Aufstieg der AfD und die Übernahme ihrer Forderungen und ihres Jargons durch die etablierte Politik. Das systematische Außerkraftsetzen sogenannter europäischer Werte in Polen, Ungarn und weiteren Staaten. Und natürlich die möglichen Wahlsiege von Rechtsradikalen und Rassisten in Italien, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, der daraus dann wohl resultierende Zerfall der EU.
Neu ist für mich, dass ich nicht mehr wie bisher denken kann, die wirklich ökonomisch Mächtigen – und nur die verdienen das Prädikat »Elite« – hätten eine Art Hoheit oder Macht, zu bestimmen, wer das Regierungspersonal stellt, wer den ideellen Gesamtkapitalisten organisiert, und also auch die Macht festzulegen, wer als ungeeignet aussortiert und in die Opposition verbannt wird. Dieses Bild – das nicht Beruhigung enthielt, aber Berechenbarkeit – ist mit Brexit und Trump zerstört, und, so scheint mir, geopolitische und ökonomische Interessen, die als Interessen immerhin analysierbar waren, verlieren an Gewicht im Verhältnis zum Wahnhaften.
Zweitens, und das betrifft Deutschland, fällt weg, was wir als notwendige Rücksichtnahme auf die Interessen der Exportwirtschaft bezeichnet haben, dieses Sich-so-weit-Zügeln, dass das berühmte Ansehen im Ausland jedenfalls – oft kontrafaktisch – Berücksichtigung fand, durch Mahnmal und Vergangenheitsbewältigung oder durch »Aufstände der Anständigen«. Das politisch argwöhnende Ausland gibt es heute fast nicht mehr; wenn Daimler Probleme hat, dann nicht aus diesem Grund.
Ich gebe also zu, mir fällt oft kein Gegenargument ein, wenn Autoren, die ich sehr schätze, negative und düstere Prognosen über die Folgen eines Handelskriegs zwischen den USA und China abgeben (das dann vielleicht mit Russland verbunden sein könnte) und wenn sie auch den großen Krieg in der Logik des Wahnhaften antizipieren oder feststellen, dass nur ein Bruchteil der wirtschaftlichen Einbrüche aus der Zeit zwischen 1928 und 1932 – seien wir bescheiden, sagen wir: ein Rückgang des deutschen Exports um 20 Prozent – heute die dünne Fassade zum Einsturz bringen könnte. Hermann Gremliza formulierte kürzlich: »Wie die Volksseele bei ähnlicher Lage 2017 brodelte, lässt sich gar nicht übertreiben.« Dagegen können nur notorisch sonnige Gemüter Einspruch erheben.
Mein Text streift die geopolitischen Fragen und möglichen ökonomischen Krisen nur am Rande, und auch der Islamismus, der islamistische Terror und die Bedeutung des »Kriegs gegen den Terror« kommen kaum vor. Es geht mir zunächst um die rechteste Entwicklung im Lager der sich Linke Nennenden, um den völkischen Nationalismus und die Euro-Zerschlagung, danach um ihre öffentlich als Antipoden wahrgenommenen Gegner des Zusammenschlusses DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025). Anschließend werde ich zwei typische Phänomene der Anpassung an beziehungsweise Versöhnung mit faschistoiden Entwicklungen an zwei Büchern exemplarisch besprechen. In einem zweiten Teil setze ich mich mit dem vieldiskutierten Didier Eribon auseinander und danach mit einem Buch, das, scheinbar oder wirklich an Eribon anknüpfend, die Schuld der Linken am Aufstieg des Faschistoiden zum Thema hat. Gegen Ende will ich die Tendenz, angesichts der Gefahren in den Konsens der Demokraten oder die Verteidigung des Bestehenden zu fliehen, kritisieren. Natürlich kommt das Beste zum Schluss, also Resümee und die ultimative Beantwortung der Frage: Was tun? Bei allem, was ich hier diskutiere, habe ich nicht nach Skurrilitäten gesucht, sondern nach Exemplarischem. Und denkt immer daran: Selbst Menschen, die an Verfolgungswahn leiden, werden manchmal verfolgt.
Es formiert sich innerhalb der sich selbst Linke Titulierenden europaweit ein Lager, das ich für den Kristallisationskern einer Entwicklung nach ganz weit rechts halte. Solche Formierungsprozesse weisen, wie wir wissen, immer Verästelungen auf, denen ich im Detail aber hier nicht folgen will. Zentrales Anliegen oder einziger Lebenszweck dieser Formierung ist die Zerschlagung von Euro und EU, die Rückkehr zur Kleinstaaterei mit eigener Notenpresse und homogenen Völkern, ihre Kampfbegriffe sind »nationale Souveränität« und »Volkssouveränität«, also etwas, das auch der Untertitel des wichtigsten Printmediums des Rechtsradikalismus in Deutschland, der Zeitschrift Compact, formuliert: »Magazin für Souveränität«.
Meilensteine dieser Formierung waren die 2014 gegründete International Coordination of Left and Popular Forces against the Euro, die daraus hervorgegangene Initiative Lexit oder der sogenannte Plan-B-Prozess, angestoßen durch eine gemeinsame Erklärung etwa von Stefano Fassina, Oskar Lafontaine, Jean-Luc Mélenchon (dem Präsidentschaftskandidaten des französischen Parti de Gauche) und auch Yannis Varoufakis, der sich inzwischen davon verabschiedet hat, im Herbst 2015. Es gab eine größere Konferenz dazu vor einem Jahr in Paris, und im Herbst traf man sich als No Euro Forum in der Toskana sowie kürzlich, im November, in Kopenhagen zu einer Plan-B-Konferenz, an der Vertreter von über 20 »linken« Parteien sowie Vertreter von sozialen Bewegungen und NGOs teilgenommen haben.
Die Basisorganisation im deutschsprachigen Raum ist die Initiative Eurexit; zu den Erstunterzeichnern ihres Manifests gehören Deutschlands vielleicht bekanntester Keynesianer, der ehemalige Staatssekretär im Finanzministerium, Heiner Flassbeck, sein enger Weggefährte – und als Minister mal sein Vorgesetzter – Oskar Lafontaine, aber auch Peter Wahl von Attac und weitere Antiglobalisierungsaktivisten, zahlreiche Gewerkschaftsfunktionäre und Lehrstuhlinhaber sowie der Semi-Prominentenflügel der Linkspartei, der wie etwa Inge Höger der Antikapitalistischen Plattform angehört, oder auch Diether Dehm. Man habe erfreulich großen Zulauf, und man habe geschichtlichen Rückenwind, denn »die Völker (bringen) den Wunsch nach Wiedergewinnung der verlorenen oder verratenen nationalen und Volkssouveränität zum Ausdruck« (Eurexit-Manifest). Im Appell des No Euro International Forum klingt das so: »Die Pro-EU-Eliten … werden ihren Platz soziopolitischen Kräften der Veränderung abtreten müssen. Diese werden morgen gefordert sein, die verschiedenen Nationen zu führen, die ihre Souveränität wiedergewonnen haben.« Nötig sei, »eine Einheitsfront zur Sprengung des europäischen ›Gefängnisses‹ zu bilden. Jedes Volk kann so seine Souveränität und Unabhängigkeit gewinnen.«
Was hier Einheitsfront genannt wird, ist ein anderes Wort für Querfront. Man sucht das Bündnis mit rechten und mit rechtsextremen Kräften, indem man diesen Fortschrittlichkeit attestiert. Mit Blick auf Italien und Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung lese ich zum Beispiel in so einer Konferenzauswertung: »Trotz ihrer verschiedenen Tendenzen repräsentiert sie den Zorn gegen das nationale und europäische Establishment, der hier auch sehr klare und linke Wortführer findet.« An dieser Stelle könnte ich nun schlicht rassistische Sprüche von Beppe Grillo in großer Zahl auflisten, aber es soll hier genügen, daran zu erinnern, mit wem die Fünf Sterne im Europaparlament eine Fraktionsgemeinschaft bilden: mit der rassistischen Ukip von Nigel Farage, mit den rechtsradikalen Schwedendemokraten und mit Frau Storch von der AfD.
Ebenfalls einen starken Trend zur Einheits- oder Querfront muss man in Frankreich und mit Blick auf den Front National konstatieren. Nimmt man zum Beispiel ein Video des sich selbst links nennenden Paul Steinhardt – kein unwichtiger Mensch, er gibt mit Heiner Flassbeck zusammen die Internetzeitschrift Makroskop heraus und war Redner beim No Euro Forum –, hört man ihn referieren: »Das Wirtschaftsprogramm des Front National ist 100 Prozent keynesianisch«, und: »Der Front National hat ein Wirtschaftsprogramm, dem ich hundertprozentig zustimmen würde.« In der Logik dieser Schwärmereien für Nazis in den höchsten Tönen – der Front National hat ein völkisch-rassistisch überformtes Wirtschaftsprogramm, in dem die Anhebung des Mindestlohns, die Verteidigung des Renteneintrittsalters, Protektionismus, Teilverstaatlichung des Finanzsektors, Investitionsprogramme vorkommen – liegt die Wahlempfehlung für den Front National spätestens im zweiten Wahlgang, was hiermit von mir prognostiziert wird. Die Vertreter des No-Euro-Lagers in Frankreich basteln an dieser Option schon lange. Jacques Sapir etwa, einer der prominentesten Repräsentanten dieses Lagers, schrieb am 11. Oktober auf seinem Blog: »Ich sprach von der Bildung einer nationalen Befreiungsfront. Diese Front könnte eine Reihe von Parteien einschließen, denn das politische Spektrum der Euro-Gegner ist sehr weit. Wie dem auch sei, der Kampf gegen den Euro muss zu Annäherungen führen, sogar mit Leuten, mit denen man schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten hat.« Übrigens heißt der Coautor von Sapirs Buch Szenarien eines Euro-Austritts Philippe Murer, und der ist inzwischen offizieller Wirtschaftsberater von Marine Le Pen.
Das sind Vorposten, die künftiges Terrain sondieren. Aber es ist schon sehr zielstrebig, auch mit verteilten Rollen abgestimmt, was da in Richtung völkischer Nationalismus und Rassismus aufgebaut wird. Sahra Wagenknecht zum Beispiel formuliert in ihren Büchern ja nicht nur: »Eine bessere Idee wäre, den demokratischen Staaten ihre eigene Währung zurückzugeben«, sondern sie bekennt sich offensiv zum homogenen Volk im kleinen, zum Erschrecken der Schweizer auch unbedingt einsprachigen Staat. Ich zitiere: »Je größer, inhomogener und unübersichtlicher eine politische Einheit ist, desto weniger funktioniert das. Kommen dann noch Unterschiede in Sprache und Kultur hinzu, ist es ein aussichtsloses Unterfangen.« Das ist an reaktionärem Gehalt kaum zu übertreffen und legitimiert alles, was es an Staatszerfall nach 1990 so gegeben hat, von Usbekistan bis zum Kosovo.
Die Strömung um Wagenknecht und Lafontaine hat die »Neustart-Konferenz« im September 2016 in Berlin dominiert und strukturiert, und die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit, von denen ich sprach, spiegeln sich etwa in der Einladung Stefano Fassinas, des ehemaligen Vizefinanzministers Italiens und No-Euro-Promis, der ebenfalls zur »Desintegration des Euro eine breite Allianz nationaler Befreiungsfronten von progressiven bis zu rechten Parteien vorschlägt«.
Die wichtigste Verstärkung hat sich diese Szene aber wohl mit Jean-Luc Mélenchon nach Berlin geholt. Er stilisiert sich auf seinem Blog als unzertrennlicher Freund Lafontaines und verkündete in Berlin erneut sein wichtigstes Credo; es lautet: »Die Souveränität der Völker ist das höchste Gut.« Der Satz hat es in sich, denn mit ihm ist alles andere wieder in die zweite, dritte, vierte Reihe verschoben: das gute Leben, das Quantum der arbeitsfreien Zeit, die sichere materielle Ausstattung des Lebens oder das sexuell und/oder müßiggängerisch Auf-seine-Kosten-Kommen. Alles plaziert sich hinter der Souveränität, und zwar der Völker, also einer angeblich aus Kultur und Sprache – weil Blut ein bisschen aus der Mode gekommen ist – bestehenden Homogenität, der man nicht entfliehen kann, der man schicksalhaft verhaftet ist.
Ich erlaube mir eine weitere Abschweifung zur französischen Linken: Sebastian Chwala schreibt in seinem lesenswerten Buch über den Front National, von einem Großteil der französischen Linken werde »ein Mangel an nationaler Souveränität als entscheidendes Problem konstatiert«. Es »fühlen sich viele Linke in geradezu mythischer Weise mit der Nation verbunden … Hier bestehen Anknüpfungspunkte für die Agitation des Front National. Auch für Jean-Luc Mélenchon könnte das Ergebnis demokratischer Erneuerung nur die Stärkung der Rolle Frankreichs in der Welt sein.« Es ist hier wichtig, im Kopf zu behalten, dass die Kämpfer für nationale Souveränität und gegen Globalismus und Fremdbestimmtheit als Kämpfer für intakte Heimat mit heimeligem Binnenmarkt und ihn belieferndem heimeligen Mittelstand Reklame machen und zugleich ihrer Nation mehr Weltgeltung verschaffen wollen. Globalisierungskritik bedeutet also fast immer nur, dass die Falschen das Weltmarktgeschehen beherrschen. Das spielte auch beim Brexit eine Rolle, der die euphorische Aufbruchsstimmung des Eurexit-Lagers regelrecht beflügelt hat.
Mal verständnisvoll billigend, dann eher verschweigend oder in einen Nebensatz verdrängt, wurden all die offensichtlich reaktionären Ansichten der Brexit-Befürworter, die Immigration, Sozialliberalismus, Modernität und Feminismus für Kräfte des Bösen halten, ihren Ressentiments Geltung verschaffen wollen und die zugleich von den guten alten Extraprofiten aus dem britischen Weltreich träumen, mitgetragen. In meinem Urlaubsort Graz zum Beispiel teilte mir die Kommunistische Partei Österreichs, die in der Stadt 20 Prozent der Wählerstimmen hat und im Landtag sitzt, mit: »Vor allem die grenzenlose Arbeitsmigration hat das Fass zum Überlaufen gebracht«; deshalb, und auch weil Österreich dringend die EU verlassen müsse, »begrüßt die steirische KPÖ die Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler«. Wilhelm Langthaler, Erstunterzeichner des Eurexit-Manifests aus Wien, verkündete ein »großartiges Resultat« und »einen Sieg der englischen Unterklassen«. Dabei kann jeder wissen, dass nichts, was die unteren Schichten Großbritanniens an Verschlechterungen erlitten haben, durch irgendwelche Eliten in Brüssel verursacht wurde. Nach dem Brexit wird es ihnen nicht besser gehen, sondern schlechter.
Noam Chomsky, den ich wirklich nur sehr selten als Zeugen zitieren mag, wird mit der Stoßrichtung seines Gedankens recht haben, wenn er formuliert: »Diese Politik hat ihren Ursprung allerdings nicht in der EU, sondern in Großbritannien selbst. Die EU hat nicht Margaret Thatcher und jene Politiker, die ihr folgten, gewählt. Teilweise hat die EU die Zerstörung der britischen Arbeiterklasse sogar erschwert und behindert.« Und nun hat sich der angeblich linke Hoffnungsträger und Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn in einer, wie es hieß, 180-Grad-Wendung gegen offene Grenzen und Freizügigkeit positioniert. Auch wenn ich biologistische Formeln verabscheue, fällt mir dazu nur ein: Schon wieder wächst zusammen, was zusammengehört.
Ich halte es für kaum ermittelbar, wie hoch der Anteil unter den für »Leave« Votierenden ist, der sich von dieser Entscheidung materielle Verbesserungen seiner Lage versprochen hat und der nun, könnte man sagen, irgendwie betrogen oder enttäuscht sein wird – wie hoch im Verhältnis zu jenen, die auch um den Preis ökonomischer Nachteile ihren wahnhaften Hass auf Polen und Dunkelhäutige ausleben und staatlich exekutiert sehen wollen. Der Wahn impliziert ja immer auch die Bereitschaft, materielle Nachteile in Kauf zu nehmen für den immateriellen Lohn, andere drangsaliert und leidend zu sehen. Im Eurexit-Lager wimmelt es jedenfalls von Stellungnahmen, die auch den Trump-Wählern edelste Motive unterstellen: »Sie haben Veränderung gewählt«, seien »die, die die Nase voll haben von einem ›Weiter so‹«, sagt Sahra Wagenknecht, und in Makroskop lese ich von »Amerikanern, die mit ihren Lebensumständen aus guten Gründen unzufrieden sind«, die einen Staat wollen, der »die verrottete Infrastruktur in den USA zu sanieren verspricht«, »der das Gemeinwohl im Blick hat« und so weiter, deshalb gelte: »Trumps Wahl gibt Anlass zur Hoffnung.«
Das ist alles dermaßen irre, dass ich das wahnhafte Fundament, auf dem diese Volkssouveränitätler stehen, an vier Facetten kenntlich machen will. Ich begebe mich zu diesem Zweck auf ihre wohl wichtigste publizistische Stütze, auf die NachDenkSeiten des Herrn Albrecht Müller.
Die erste Facette ist die permanente Behauptung der Fremdsteuerung deutscher Staatspolitik. Das geht so: »Angela Merkel ist ein verlässlicher Partner der USA, so verlässlich, dass man daran zweifeln muss, dass genuin deutsche Interessen noch die notwendige Förderung erfahren.« Und ein paar Tage später: »Auch die SPD erweist sich als fremdbestimmt.« Wer nicht gänzlich national durchgeknallt ist, könnte begreifen, dass der Zweck aller Staatspolitik – den Aufstieg der eigenen Nation über die Schädigung anderer Nationen voranzubringen – auch sich des Mittels der Kooperation und Konzession bedienen muss. Ganz frei von solch minimaler Erkenntnis tobt es sich auf Sahra Wagenknechts Facebook-Seite aus: »Merkel ist ein Produkt der Machenschaften der CIA« – »Wir wissen, dass Frau Merkel nichts anderes tut, als amerikanische Interessen durchzusetzen« – »Und jetzt schiebt endlich die Ami-Nutte Merkel ab.« Nie wird man ermitteln können, ob so etwas von den NachDenkSeiten oder von der AfD inspiriert ist, die ja in ihrem Programm beklagt, dass »zunehmend andere Staaten und Institutionen die deutsche Außenund Sicherheitspolitik beeinflussen und steuern«.
Die zweite Facette folgt zwingend aus der ersten. Wo Fremdsteuerung gemutmaßt wird, ist Enthüllung dieser verborgenen Machenschaften angesagt. Die NachDenkSeiten und das entsprechende Sortiment des rechtsradikalen Kopp-Verlags sind in diesem Punkt ununterscheidbar. Ein wichtiger Autor der NachDenkSeiten ist Paul Schreyer, der unter anderem herausgefunden haben will, dass Bin Laden die Anschläge von 9/11 weder angeordnet habe noch in sie verwickelt war, sondern dass diese vielmehr vom amerikanischen Geheimdienst durchgeführt wurden, der einer Schattenregierung dient. Ich erspare euch weitere Details. Politisch wichtig scheint mir, dass nach der sehr lesenswerten Studie zur »enthemmten Mitte« 60 Prozent aller Deutschen für Verschwörungstheorien, also die These, dass im Geheimen Ausgehecktes unser ganzes Leben bestimmt, anfällig sind, dass aber die Wähler der AfD und der Linkspartei diesem Phänomen der zerstörten Vernunft in weit größerer Zahl unterliegen als die Wähler der anderen Parteien – ein beängstigendes, nur scheinbar vorpolitisches Fundament der Querfront, ein Scharnier, das die Beteiligten auch immer wieder ganz konkret zusammenführt. Paul Schreyer hat kürzlich das Buch von und über Ken Jebsen, Der Fall Ken Jebsen, für die NachDenkSeiten hymnisch rezensiert, in dem Albrecht Müller als guter unerschrockener Freund des Machers von KenFM geschildert wird. Ich habe das Buch gelesen. Das war nicht schön, aber es ging mir darum, das Erfolgsgeheimnis und diese gemessen an unserer kleinen Welt gigantischen Klickzahlen für KenFM besser zu begreifen.
Ich hoffe, ihr versteht nicht falsch, was ich jetzt sage. Ich habe ja in anderen Abschnitten meines Lebens durchaus auch mit Rechten aus der CDU, wenn sie als Intellektuelle galten und die entsprechenden Einladungen zu den bekannten Akademien etwa in Hofgeismar annahmen, öffentlich diskutiert. Das war nicht fruchtbar. Das war auch nicht sinnvoll. Es war Antagonismus und Feindseligkeit in zivilisiertem Ton. Aber neben dem bildungsbürgerlichen Anspruch der Belesenheit gab es so eine Art der Stringenz der Argumente, der, wie gesagt, unversöhnlichen Argumente. Dies entfällt bei Ken Jebsen komplett. Da ist alles nur auftrumpfende Siegesgewissheit, Ressentimentpflege, dumme Phrase, Gewitztheit, Jargon, Verschwörungstheorie und Hass auf Israel. Es entzieht sich dem Argumentieren, und das ist etwas besonders Beängstigendes.
Die dritte Facette, ebenfalls zwangsläufig und hier nur angerissen, ist der Antisemitismus. Die Eurexit-Vorkämpfer sind auf diesem Gebiet zügellos. Erstunterzeichnerin und bei besagter Konferenz in der Toskana dabei war zum Beispiel die Bundestagsabgeordnete Inge Höger, vom Simon-Wiesenthal-Zentrum als »extrem antisemitisch« eingestuft, 2010 mit der Gaza-Solidaritätsflotte unterwegs, Trägerin eines Schals mit einer nahöstlichen Landkarte, auf der Israel fehlt, also symbolisch schon einmal ausgelöscht ist; wie alle anderen natürlich engagiert in allen Kampagnen, die Israel delegitimieren und zu seinem Boykott aufrufen.
Und die letzte Facette: Dieser Antisemitismus geht eine Symbiose mit dem Rassismus ein. Ich zitiere pars pro toto aus einem Porträt der NachDenkSeiten von einem als »insgesamt progressiv eingestellt« charakterisierten Mann: »Er werde beim nächsten Mal AfD wählen. Man kann es als Hilferuf verstehen. Er hat sehr wohl gesehen, dass sich unsere Bundeskanzlerin mit offenen Armen für Flüchtlinge selbst nur geschmückt hat. (Aber) wir laufen mit dieser Politik hohe Risiken. Er weiß das, oder er ahnt das, und er spürt und hört, dass man darüber nicht sprechen darf, wenn man nicht Gefahr laufen will, als Rechter oder Rechtspopulist stigmatisiert und abgekanzelt zu werden. Er sieht zugleich, wie sich Politiker jener Partei, der Linkspartei, die er bisher gewählt hat, über jene hermachen, die seine Sorgen noch zu artikulieren wagen: Kipping und van Aken rücksichtslos gegen Wagenknecht.«
Was sich hier als Verständnis für einen progressiv eingestellten AfD-Wähler nur schwach kostümiert, ist Wertschätzung der rassistischen Positionen der AfD. Und diese Wertschätzung ist eine wechselseitige, wie wir dem zahlreichen Lob für Wagenknechts Schuldzuweisung an Merkel für den Terroranschlag in Berlin erneut entnehmen konnten. Die sehr lesenswerte, im letzten Jahr erschienene Untersuchung Im Feindbild vereint erinnert noch einmal daran, wie das erträumte Wunschkabinett der rechtsradikalen Zeitschrift Compact zur Rettung Deutschlands aus Anlass der Bundestagswahl 2013 personell zusammengesetzt war: »Die Compact-Regierungsalternative sah damals Thilo Sarrazin als Bundeskanzler vor; Außenminister sollte Oskar Lafontaine werden, Familienministerin Eva Herman, Finanzminister Bernd Lucke und Arbeitsministerin Sahra Wagenknecht.«
Das alles sind keine absurden Irrlichter, sondern verfügt über eine politisch-soziale Basis. Ende September 2016 wurde unter anderem im Hamburger Abendblatt eine umfangreiche Studie vorgestellt, in der gefragt wurde: »Welchem Politiker trauen Sie zu, die großen Aufgaben zu lösen?« Die Antworten wurden nach Parteinähe aufgeschlüsselt. Von den befragten AfD-Wählern erhielt, kein Wunder, Frauke Petry die besten Werte (68 Prozent), es folgte Horst Seehofer (63 Prozent), und auf Platz drei landete Sahra Wagenknecht mit 38 Prozent. Das war zehnmal mehr, als Angela Merkel erreichte, und 16mal mehr als Sigmar Gabriel.
Selbstverständlich leugne ich bei all dem nicht die Stellungnahmen aus der Linkspartei gegen den Wagenknecht-Rassismus. Und natürlich ist mir auch nicht entgangen, dass Bernd Riexinger sich und andere gegen das Eurexit-Lager positioniert hat. Mir ist bekannt, dass da Leute ein eher modernes, sozialdemokratisch-liberales Profil anstreben, natürlich ohne jede Distanz zur Regierungsbeteiligung, aber auf ein Milieu setzend, das in Berlin ja teilweise auch gewonnen werden konnte. Und ich will betonen, dass ich die Arbeit jener schätze, die als Abgeordnete Licht in den NSU-Skandal zu bekommen versuchen oder die vor Ort verlässliche Partner von Antifas und Antiras sind, deren Büros angegriffen werden und um deren Unversehrtheit man bangen muss. Und trotzdem: Um eines guten Wahlergebnisses willen befürworten sie die Spitzenkandidatur ihrer innerparteilichen Widersacherin oder akzeptieren sie jedenfalls zähneknirschend. Dadurch, genau dadurch, wird Antagonismus zur Meinungsverschiedenheit. Und im übrigen kann es von ihnen niemand mit der Popularität, dem Zuspruch zu den Veranstaltungen und der Medienpräsenz von Sahra Wagenknecht aufnehmen. In den wichtigsten Talkshows des letzten Jahres hat sie sogar Herrn Bosbach übertroffen.
Die auf der Siegerstraße drehen auf und durch: Im Neuen Deutschland gab es im Rahmen einer pluralen Debatte auch eine Stellungnahme von Jan Ole Arps, Redakteur des AK, der bekanntgab, wegen Wagenknechts jüngster Äußerung erstmals die Linke nicht mehr wählen zu wollen. Und auf den NachDenkSeiten las ich dazu: »Es sei der Linken dringend angeraten, in ihrem eigenen Haus aufzuräumen und die Antideutschen im Neuen Deutschland schleunigst loszuwerden.« Ebendort las ich, bezüglich der doch eigentlich ziemlich zahmen, auf das Parteiprogramm verweisenden Stimmen gegen die Spitzenkandidatin: »In solchen Fällen sind Parteiordnungsverfahren eine demokratische Pflicht, wenn auf andere Weise ein Burgfrieden für den Wahlkampf nicht erreichbar ist.« – Biografie dachte ich immer, die Spontis oder die Undogmatischen seien die Härtesten, aber vielleicht sind doch die alten Sozialdemokraten die legitimsten Erben stalinistischer Usancen. Man weiß es nicht, ich bin ja kein Parteienforscher. Den eingeklagten Burgfrieden wird es geben, leider – aber das ist der Stand.
Ich komme zur Bewegung DiEM25, die als Antipode zu den Eurexit-Kräften unter Linken gilt, also zu der vor einem Jahr in Berlin aus der Taufe gehobenen Bewegung Demokratie in Europa 2025, deren Initiator Yannis Varoufakis ist und der sich linke Prominente wie Antonio Negri, Ken Loach, Noam Chomsky, Julian Assange, Slavoj Žižek sowie Politiker von Syriza, der Linkspartei, der Labour Party und Podemos, aber auch zum Beispiel die Bürgermeisterin Barcelonas angeschlossen haben. Zielsetzung und Befürchtung hat DiEM25 in der Überschrift seines Manifests festgehalten: »Die EU wird demokratisiert, oder sie wird zerschlagen.« Befürchtet wird ein »Rückzug in den Kokon unserer Nationalstaaten«: Angemessen schroff scheint, was Varoufakis gegen seine Antipoden argumentativ in Stellung bringt: »Glauben die Befürworter der Lexit-Option denn tatsächlich, dass die Linke heute den Kampf um die Hegemonie gegen die extreme Rechte gewinnen kann, indem sie den Ruf nach neuen Zäunen und einem Ende der Freizügigkeit unterstützt?« Er warnt vor »dem Schulterschluss mit nationalistischen Positionen, die unweigerlich die extreme Rechte stärken werden«.
Dass er so formuliert, hat mich gewundert, war er doch wenige Monate zuvor noch mit den Plan B-Promis, zu denen unter anderem Mélenchon und Lafontaine gehören, gemeinsam im Geschäft. Außerdem war er ja Minister einer Regierung, der auch die extreme Rechte, die Anel-Partei, angehörte, in der also der Schulterschluss mit nationalistischen Positionen verwirklicht wird.
Drei kritische Anmerkungen zu DiEM25: Das Dokument idealisiert das, was die EU angeblich mal sein sollte und nun wieder werden müsse, jenseits aller historischen Realitäten, die zu ihrer Gründung führten. »Die Europäische Union hätte der sprichwörtliche Leuchtturm sein können, sie hätte der Welt zeigen können …« und so weiter. Unterhalb eines Vorbilds für die ganze Welt macht es der patriotische Europäer einfach nicht. An dieser Stelle nur die Feststellung, dass die behauptete »eigentliche« Qualität der EU die Voraussetzung für die törichte, antiaufklärerische Behauptung ist, die gute Idee wäre durch Dilettanten, also nicht durch Interessen, sondern durch Nieten in Nadelstreifen, vermurkst worden, durch »ein Bündnis aus kurzsichtigen Politikern, ökonomisch naiven Beamten und unfähigen Finanzexperten«.
Zweitens: Ich mag einfach illusionären Blödsinn nicht, also solche in lächerlicher Akribie aufgestellten Forderungen, nach denen alle Sitzungen des Europäischen Rats, der Euro-Gruppe und so weiter ab sofort live im Internet verfolgbar sein müssten, aller Geheimdiplomatie der Garaus gemacht gehört und »voller Transparenz der Entscheidungsfindung« zu weichen hätte. Transparenz ist übrigens ein sehr gefährlicher Modetrend. Alle weiteren Pläne und Zeitpläne weisen einen ähnlichen Hirnriss auf, die komplette Abstraktion von allen politischen und gesellschaftlichen Potentialen in Europa. Innerhalb von zwei Jahren – also jetzt nur noch in einem Jahr –, so wurde beschlossen, müsse per transnationalen Wahllisten die Wahl und Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die gesamte EU verwirklicht werden; diese Versammlung entwirft und entscheidet über eine vorbildliche neue demokratische Verfassung der EU; und die Beschlüsse dieser Versammlung seien dann bis 2025 umzusetzen. Das alles zu präzisieren ist Beschäftigungstherapie für lebenslang dem Konstruktiven verpflichtete Akademiker. Ich bitte sehr darum, dass dieser Streit untereinander nicht auch noch »transparent« gemacht wird. Und wenn ich dann lese, die Gründungskonferenz von DiEM25 sei – ich zitiere die Zeitschrift AK – »mit Glitzervorhängen und der spannungsvollen Musik eine glänzende Inszenierung« gewesen, »genial als mediale Intervention bekannter Persönlichkeiten, um emanzipatorischen Projekten medialen Rükkenwind zu geben … Pop wirkt eben.« – Dann muss ich die distanzlose Verbundenheit von manchen Linken mit der Kulturindustrie und die damit einhergehende Verwechslung von Event und gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen.
Aber drittens, und das ist mein wichtigster Einwand: Im DiEM25-Manifest wimmelt es von positiv konnotierten »stolzen Völkern«, deren »nationale Selbstbestimmung« zu respektieren sei. Die Beschlüsse der verfassunggebenden Versammlung, heißt es, schaffen ein »Wir, die Völker Europas«. »Die EU-Bürokratie« sei »dem Willen der souveränen Völker Europas zu unterwerfen«. Gefordert wird ein »pluralistisches Europa der unterschiedlichen Regionen, Ethnien, Glaubensüberzeugungen, Nationen, Sprachen und Kulturen«. Das alles fällt nicht nur hinter jede kritische Reflexion der konstruierten nationalen Identitäten zurück, sondern macht, ich befürchte: gezielt, die Tür zum Ethnonationalismus sperrangelweit auf – so etwa, wenn besagte »unterschiedliche Ethnien«, also Basken, Katalanen, Schotten oder Flamen, ihr sogenanntes »Völkergefängnis« verlassen, um dann als ethnische Homogenität der EU, sagen wir: nach kroatischem Vorbild, beizutreten. Das genau ist heute Programm. Und es ist das Gegenteil der Überwindung von Nationalismus und ist zugleich reaktionär um ethnische Reinheit kämpfend und im Regelfall Pro-EU.
Zwei Bücher möchte ich, unabhängig von Eurexit versus DiEM25, erwähnen, die die schreckliche Faustregel bebildern, nach der staatspolitische und gesellschaftliche Verschiebungen nach sehr weit rechts oder ins Faschistoide immer ein Mitgehen, halbes Mitgehen, Legitimieren, Verständniszeigen, Gemeinsamkeiten Betonen etc. nach sich ziehen. Ein krasses Beispiel ist der Band von Stephan Hebel: »Sehr geehrter AfD-Wähler, wählen Sie sich nicht unglücklich!« Untertitel: Ein Brandbrief. Einige Ausschnitte aus dem mit dem Stilmittel des offenen Briefs arbeitenden Buch: »Sehr geehrter AfD-Wähler, bleiben wir ruhig bei der höflichen Anrede, denn ich gehe mal davon aus, dass Sie die AfD nicht deshalb wählen, weil Sie prinzipiell etwas gegen Ausländer und Flüchtlinge hätten. Wie Sie sehen, bin ich überzeugt, dass man den Erfolg der AfD nicht mit billigen Parolen wie ›Alles Rassisten‹ erklären kann.« Schon an dieser Stelle springt mich ein Gedanke förmlich an: So hätte man auch im historischen Kontext, sagen wir des Jahres 1931, formulieren können: Sehr geehrter NSDAP-Wähler, ich bin überzeugt davon, dass Sie kein Antisemit sind; Sie haben nicht prinzipiell etwas gegen Juden, mit so billigen Parolen wird man Ihnen nicht gerecht. Dem so angesprochenen Wähler muss immer viel entgangen sein – historisch meinetwegen das eigentlich doch unübersehbare Parteitagsmotto »Die Juden sind unser Unglück«. Jedenfalls teilt er die Parolen und Motive der AfD eigentlich nicht, hat andere, verständlichere, und das sind immer irgendwie soziale. Einige Zitate: »Vielleicht spielt bei Ihnen Angst eine Rolle, vor noch mehr krankmachendem Stress. … Ich stelle Sie mir als Normalbürger vor, der für sein Geld ordentlich arbeiten muss, wenn Sie Ihren Lebensstandard wenigstens halten wollen, vor Armut im Alter. … Mit dieser Sorge haben Sie meiner Meinung nach durchaus recht: Gerade für die Sicherung des Wohlstands hat die Politik seit Jahren wenig zum Positiven geändert.« Das berechtigte Anliegen sei allerdings bei der AfD, da sie neoliberal sei, in falschen Händen. Deswegen gäbe es, sollte die AfD Deutschland regieren, »ein böses Erwachen«. Sie verstößt auch mit ihrer Position der Euro-Auflösung gegen die »eigentlichen« Interessen des AfD-Wählers und seiner Nation: »Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der Austritt auch Deutschland schwer beschädigen würde.«
Jedes humanistische Argument wird in diesem Buch überlagert von Berechnungen der instrumentellen Vernunft – die volkswirtschaftliche Nützlichkeit der Ausländer –, und sogar an positiver Bezugnahme auf die AfD-Programmatik mangelt es nicht: »Auch die Partei Ihrer Wahl (die AfD) erwähnt Rüstungs- und Lebensmittelexporte als Fluchtursachen, und Freihandelsabkommen wie die transatlantischen Verträge mit den USA und Kanada (TTIP und CETA) lehnt sie, wenn auch mit wesentlich stärkerer Betonung auf nationalen Kompetenzen, ebenso ab wie viele linke Globalisierungskritiker.« Da hat man doch schon mal eine weitere Gemeinsamkeit gefunden: die Globalisierungskritik. Und schon wird aus jenem, der der AfD eigentlich gar nicht richtig anhängt, ein potentieller Mitkämpfer: »Gehen Sie mal zu einer Demo gegen TTIP, um zu sehen, dass man, wie die AfD, gegen ungerechte Freihandelsabkommen, aber, anders als die AfD, zugleich für eine Welt der Offenheit und des fairen Austauschs sein kann. … Und vor allem: Wählen Sie sich nicht unglücklich.«
Ich will an dieser Stelle nichts zur sogenannten Globalisierungskritik sagen. Nur soviel: Es handelt sich um eine Kampfvokabel gegen den analytischen Begriff der Weltmarktkonkurrenz. Wer Globalisierung sagt, kann Deutschland zum Opfer stilisieren; wer von der analytischen Kategorie Weltmarktkonkurrenz aus operiert, kann das nicht, denn zu offensichtlich ist, welchen Reichtumstransfer Deutschland per Exportüberschuss vom fremden aufs eigene Territorium veranstaltet.
Wichtig ist, dass der Autor Hebel, der für die Frankfurter Rundschau , den Freitag, fürs Deutschlandradio arbeitet und regelmäßig als linker Gast im Presseclub der ARD sitzt, vollständig leugnen muss, was die Studie Die enthemmte Mitte über die Gesinnung von AfD-Wählern erforscht hat. Und nur weil die Zustimmung zum Schießen an den Grenzen in dieser Studie nicht abgefragt wurde, erscheinen Rohheit und grauenvolle Gesinnungen nicht in ihrer ganzen grellen Scheußlichkeit. Der Autor kann mit seinem Buch bei AfD-Wählern keinen Erfolg haben. Meine These ist, dass er das auch weiß und für sich und sein Milieu nur die eigene Versöhnung mit dem Faschistoiden formuliert hat, das Arrangement, die gute Nachbarschaft.
Und schließlich Slavoj Žižeks Spiegel-Bestseller Der neue Klassenkampf. Ich halte das Werk für paradigmatisch. Es beginnt mit der Behauptung einer Äquidistanz, der gleich großen Entfernung zu zwei falschen Positionen: »Die Linksliberalen fragen empört, wie Europa es zulassen kann, dass Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken – sie plädieren dafür, dass Europa sich solidarisch zeigen und seine Türen weit aufmachen sollte. Populistische Einwanderungsgegner indes fordern dazu auf, die europäische Lebensweise zu schützen, und sind der Meinung, Afrikaner und Araber sollten ihre Probleme selbst lösen. Beide Lösungen sind schlecht, aber welche ist schlechter? Um Stalin zu paraphrasieren: Sie sind beide schlechter.« Eine bemerkenswerte Gleichsetzung, die ein wenig relativiert wird durch die Behauptung einer besonders miesen Eigenschaft, die nur jenen eigen ist, die sich über das Ertrinken im Mittelmeer empören: »Die größten Heuchler sind fraglos diejenigen, die offene Grenzen fordern: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil dies sofort eine populistische Revolte in Europa zur Folge hätte. Sie inszenieren sich nur als schöne Seelen.« Ich will gar nicht beurteilen, ob das auf einige zutrifft. Ich weiß allerdings, gegen wen das schlicht niederträchtig ist: gegen praktisch aktive Antirassisten.
Und nun kommt Žižeks, also die von ihm postulierte richtige Position, »dass es unsere wahre Bestrebung sein sollte, die Basis der Gesellschaft weltweit so weit umzugestalten, dass keine verzweifelten Flüchtlinge mehr auf diesen Weg gezwungen werden«. Dies sei die weitergehende, radikalere Lösung, sie sei materialistisch, nicht nur moralisch. Auch das mag sein. Nur erforderte sie eben ein solches Maß an Klassenkämpfen ohne nationale Borniertheiten, einen Bruch mit imperialistischem Raub von Ressourcen und Beendigung der Weltmarktkonkurrenz etc., dass der Verdacht sich förmlich aufdrängt, der Autor sei ein Heuchler, weil er weiß, dass das in absehbarer Zeit nicht realisierbar ist. Bei der Tabubrecherei, der sich Žižek ja verschrieben hat, handelt es sich im Regelfall um gar nichts Unkonventionelles oder Unterdrücktes, sondern der Tabubrecher stilisiert sich nur zum einsamen, angefeindeten Rufer in der Wüste. Mit dieser Methode haben es sowohl Thilo Sarrazin als auch der grüne Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, zur Meisterschaft gebracht.
Žižek schreibt: »Ein weiteres Tabu, das es zu verwerfen gilt, ist die Vorstellung, der Schutz der eigenen Lebensweise sei an sich protofaschistisch oder rassistisch.« Nö, ach was, das ist die allerlegitimste Abwehr der Zerstörung unserer Kultur, die uns geraubt wird, wenn zu viele kommen, die uns nicht mal essen lassen wollen, wie wir es seit der Schlacht im Teutoburger Wald als Deutsche nun mal lieben. Žižek: »In den Schulkantinen wird muslimischen Kindern kein Schweinefleisch serviert. Aber was, wenn diese Kinder sich an den anderen Kindern stören, die Schweinefleisch essen?« Es gibt eine reale Debatte in Deutschland, ob um den Preis des Aufenthaltsrechts zu den erzwingbaren Integrationsleistungen der Verzehr von Schweinefleisch gehören soll. Das auf den Kopf zu stellen, ist schon infam.
Das gleiche Muster wendet Žižek an, wenn er nicht den gemeinen Umgang mit Geflüchteten, sondern ihre Undankbarkeit anklagt: »Es entspricht schlicht der Wahrheit, dass die Flüchtlinge nie Dankbarkeit empfinden werden für die Leute, in deren Länder sie zu kommen geschafft haben.« Und dann dieses Anspruchsdenken! »Gerade wenn sich Menschen in Armut, Not und Gefahr befinden und man erwarten würde, dass sie mit einem Minimum an Sicherheit und Wohlergehen zufrieden wären, explodiert die absolute Utopie. Sie werden lernen müssen, ihre Träume zu zensieren. … Kurzum: Die Flüchtlinge erwarten im Grunde genommen, die Vorzüge der westlichen Wohlfahrtsstaaten nutzen zu können, ohne ihren eigenen Lebensstil zu ändern.« Und weil die Kuchen statt trocken Brot, einige sogar Einzelzimmer statt Massenunterkunft wollen und sich nicht den Anforderungen der Leitkultur beugen, muss sie abgeschafft werden, diese »pathetische Solidarität mit den Flüchtlingen«. Statt dessen »müssen wir ein weiteres Tabu hinter uns lassen, nämlich die Ängste und Sorgen der sogenannten kleinen Leute angesichts der Flüchtlinge, die oft als Ausdruck rassistischer Vorurteile, wenn nicht gar eines blanken Neofaschismus abgestempelt werden«.
Es sind seine Ressentiments, mit denen sich Žižek hinter den Sorgen und Ängsten der »kleinen Leute« versteckt, um zu postulieren: »Man sollte daher die Verbindung zwischen Flüchtlingen und humanitärer Empathie kappen, die die Hilfe für Flüchtlinge in unserem Mitgefühl verankert.« Praktisch will er »Aufnahmezentren, wo Tausende registriert und erfasst werden«, und: »Die Kriterien der Anerkennung müssen klar und deutlich formuliert sein, wer wird aufgenommen und wie viele.« Das ist der Wortschatz von Innenministern. Jedenfalls »sollten wir die vorherrschende linksliberale, humanistische Haltung verwerfen«.
Nichts von dem, was Žižek abgeräumt wissen will, ist in irgendeinem nennenswerten Milieu in Deutschland »vorherrschend«. Die Position der offenen Grenzen ist so marginal, dass sie in den Statistiken der Meinungsforschung schlicht nicht vorkommt. Žižek animiert seine große Leserschaft und sein zahlreiches Veranstaltungspublikum, das gebildet, gutsituiert und keineswegs proletarisch ist, zur Enthemmung. Dass dies im Namen einer befriedeten Welt geschieht, ist einfach nur infam.
2 Die nächste Barbarei
Haben Fehler und Versagen der Linken den Aufstieg der Rechten befördert?
Didier Eribon ist ein ganz anderes Kaliber als die Vorgenannten. Mit seinem sehr erfolgreichen Buch Rückkehr nach Reims und einigen Interviews, die er gegeben hat, möchte ich mich nun beschäftigen. Er scheint nur Anhänger zu haben. Oskar Lafontaine sitzt bei Maischberger und bezieht sich auf ihn, Sahra Wagenknecht hält eine sogenannte wichtige Bundestagsrede und beendet sie mit einem Eribon-Zitat, in konkret wird er ziemlich gefeiert und befragt, Jan Feddersen zeigt sich in der taz hingerissen, und auch ich fand die Lektüre fesselnd. Das hat Gründe und will durchdacht sein. Ich vernachlässige hier einen Aspekt, der im Buch viel Platz einnimmt, gänzlich: die Schilderung und Reflexion eines homosexuellen linken Intellektuellen, der jahrzehntelang seine proletarische Familie nicht sehen wollte und der ebensolange seine proletarische Herkunft im Freundes- und Kollegenkreis verheimlicht hat, ängstlich bangend, sie könnte auffliegen. Mir geht es um folgendes:
Erstens: Wenn Eribon die soziale Lebensrealität seiner Eltern in der Zeit seiner Kindheit und seines Erwachsenwerdens beschreibt, dann beschreibt er eine Zeit vor dem sogenannten Neoliberalismus, also das, was Hobsbawm »goldenes Zeitalter des Kapitalismus« genannt hat, ohne die heute so oft anzutreffende Romantisierung: »Das Wort soziale Ungleichheit ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit über die Klassengesellschaft vor Augen.« Was Eribon beschreibt, liegt in der kapitalistischen Produktionsweise. Und gutbetuchte Menschen, die das nicht sehen wollen, mag ich weder zu einer Fabrikbesichtigung noch zu einem Spaziergang durch ein sogenanntes Problemviertel einladen. Sie können ja die Kassiererin im Supermarkt einfach anschauen und registrieren, wie anders dieses Leben ist als, sagen wir, ein bildungsbürgerliches, wie ermüdend, erschöpfend, Denken und Sinnlichkeit zerstörend. Gegen alle verrückten Behauptungen dieser Welt – dass der Menschheit die Arbeit ausgeht oder die Arbeitswelt aus sich selbst verwirklichenden Kreativen bestehe – kann man ja mal ein paar empirische Tatsachen zur Kenntnis nehmen.
Zweitens: Eribon macht diskutierbar, dass es diese materiellen Verhältnisse sind, die die ihnen Unterworfenen so roh machen. Ohne die Verrohung auf irgendeine anthropologische Konstante zurückzuführen, schildert er sie und die zugehörige Gesinnung ungeschminkt. Was er täglich von Menschen, die die Kommunistische Partei (KP) wählen, zu hören bekam, »wäre dem (Programm) der Rechtsextremen wohl ziemlich nahegekommen: Forderungen, Einwanderer wieder abzuschieben, nationales Vorrecht auf Arbeitsplätze und Sozialleistungen; Verschärfung des Strafrechts und der Strafverfolgung; Beibehaltung und Ausweitung der Todesstrafe. Ein tiefsitzender Rassismus, der eines der dominanten Merkmale des weißen Arbeitermilieus und der Unterschichten ausmachte …« Niemand musste erst sozialen Abstieg erleben oder von Abstiegsängsten gequält werden, um so zu reden.
Daraus wäre der Gedanke zu gewinnen, dass Rassismus – und Antisemitismus, den Eribon nicht behandelt – etwas von der kapitalistischen Produktionsweise, von der ihr innewohnenden Entsagung, immer wieder Erzeugtes ist. Etwas, das heute scharfgemacht und entfesselt werden kann. Und dass, wer das beseitigen will, die Überwin dung der kapitalistischen Produktionsweise und die ihr zugehörige Art des Arbeitens anstreben muss.
Drittens, und in diesem Punkt liefert Eribon das Wertvollste, das mir im Moment denkbar erscheint, er spricht aus: »Die Rückkehr zum Nationalismus ist keine Alternative«, und er entwickelt seine Überlegungen, dass es zwar einen erfolgreichen, aber keinen linken Populismus geben kann, weil, was Linke zu sagen haben müssten, nun einmal komplizierter und nicht spontan einleuchtend ist. Eine kleine Collage diesbezüglicher Zitate: »In Spanien benutzt Pablo Iglesias ständig den Begriff la patria. Er begreift nicht, dass das ein sehr gefährliches Wort ist, das historisch klar besetzt ist.« – »Begriffe wie Heimat, la terre, le sol, bringen uns nirgendwohin. Das ist Blut-und-Boden-Rhetorik.« – »Dass die Linken rechte Argumentationen übernehmen, sieht man leider immer häufiger.« – »Die Rhetorik von Podemos ist genau die gleiche wie die des Front National.« – »Wenn man die Nation gegen die Oligarchie positioniert, wo sind dann die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken? Gehören sie zur patria? Man muss mit diesen Begriffen sehr vorsichtig sein, sonst ist man sehr schnell bei den französischen und italienischen Faschisten, die den Kapitalismus als Diktatur der Banken ausgeben und es als volkszersetzend ansehen, wenn jede Minderheit ihre Rechte durchsetzen will.« Das soll genügen. Eribon benennt einige Kernelemente heutiger inhaltlicher Querfronten, und ihm ist absolut klar, dass kein Platz für einen schwulen Intellektuellen ist, wo im Namen von Nation und Gemeinschaft, aber auch im Namen des Proletariats, des Proletkults oder des Hauptwiderspruchs untergemangelt wird, was an Errungenschaften und Zivilisierung der bürgerlichen Gesellschaft abgetrotzt wurde.
Oft wird Eribon für die These der »Mitverantwortung der Linken für den Auftrieb der Rechten« in Anschlag gebracht. Darin steckt ein großes, manchmal auch gewolltes Missverständnis. Denn meistens spricht er von Regierungslinken und »institutionalisierter Linker«, also von der französischen Sozialdemokratie und ihrem ideologisch-intellektuellen Begleittross. Aber es ist nicht alles auf Missverständnis, sozusagen einen Übersetzungsfehler französischer Usancen, nach denen Hollande als Linker gilt, zu reduzieren. Eribon sagt ja auch: »Man muss sich schon fragen, warum die radikale Linke, die alternative Linke, es nicht geschafft hat, eine andere Dynamik in Gang zu setzen. Es ist dringend notwendig, ein linkes Denken neu zu erfinden.« Und an anderer Stelle: »Die Linke muss sich neu erschaffen.«
Ich ahne, was damit intendiert ist. In Frankreich hat der vom ehemals sozialdemokratischen Senator Jean-Luc Mélenchon gegründete Parti de Gauche nach einer Hochphase einen immensen Abfluss an Aktivisten und diverse horrende Wahlniederlagen erlebt. In diesem Prozess geschah, und ich vermute, zum Schrecken Eribons, manch nationalistischer Schwenk, der sich zum Beispiel im Motto des Parti-de-Gauche-Kongresses vom Sommer 2015 artikulierte, das einen erschaudern lässt: »Die Losung ist das Volk.«
Ich verstehe also Eribons Position und habe zugleich keine gute Meinung von so reklamehaften Formeln wie »Linkes Denken neu erfinden«; wahrscheinlich bin ich Gorbatschow-geschädigt. Zumal solche Formeln fast immer mit dem Versprechen einhergehen, dass nach entsprechender Neuerfindung in irgendwelchen Offensiven eine Art Erfolgsgarantie stecke. Wenn Eribon schreibt: »Deshalb ist es auch alles andere als unmöglich, dass sich ein Teil der FN-Wähler in nicht ganz ferner Zukunft der extremen Linken zuwendet«, dann euphorisiert mich solch unbeweisbare Zuversicht nicht, obwohl ich wirklich gerne Unrecht hätte.
Aber zu dem, was ich für Eribons gravierendsten Fehler halte: »Das Wählen rechtsextremer Parteien kann man als eine Art sozialen Aufstand gegen ›das System‹ begreifen«, sagt er im konkret-Interview. »Es ist tragisch, dass die Arbeiter erst für den Front National stimmen mussten, um auf sich aufmerksam zu machen«, sagt er bei Zeit Online und fährt fort: »Was bleibt ihnen also anderes übrig, als nächstes Mal in Frankreich FN zu wählen, in Österreich FPÖ, in Großbritannien Brexit und in Deutschland AfD?« Und in Rückkehr nach Reims heißt es: »So widersprüchlich es klingen mag, bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchen, ihre kollektive Identität zu verteidigen.«
Eribons Begriff der »Notwehr« hat mittlerweile eine Karriere gemacht, die an die sprichwörtlichen »ernstzunehmenden Sorgen und Ängste« heranreicht, und ich halte das für furchtbar. Notwehr ist die Feststellung totaler Unschuld. Wer zu ihr greift, kann weder normativ noch moralisch und erst recht nicht juristisch belangt werden. Die Formulierung »Was bleibt ihnen anderes übrig?« meint dasselbe, und die Kennzeichnung als »Art sozialer Aufstand« geht fast noch darüber hinaus. Diese Formeln, die den Arbeiter als Unmündigen, nicht Verantwortlichen behandeln, haben immer Konjunktur, wenn das Faschistoide auf dem Vormarsch ist, und deshalb meines Erachtens nicht zufällig etwa im Deutschland der frühen neunziger Jahre. Wolfgang Fritz Haug von der Zeitschrift Argument sah damals im Rassismus einen »entfremdeten sozialen Protest«. Arbeitertümelnde Autonome sahen »in der Gewalt der Zukurzgekommenen (gegen Flüchtlinge) eine Form der Selbstfindung unter schlechten Emblemen«. Karl Heinz Roth entdeckte »einen plebejischen oder subproletarischen Rassismus, der sehr ambivalent ist« – dem also auch Positives innewohnt. Zusammengefasst wurde das alles in der die Rassisten zu sich irrenden Kumpeln machenden Parole: »Ausländer sind die falsche Adresse, haut den Politikern auf die Fresse.«
Eribon ist nicht Bestandteil dieses Milieus. Aber wenn er von »den Arbeitern« spricht, die Faschisten wählen müssten, kommen die, die eine dunkle Hautfarbe oder einen falschen Pass haben – und es deswegen nie tun –, schon terminologisch als Arbeiter nicht mehr vor. Und ebenfalls nicht die realen Konflikte, die zwischen – auch – weißen Arbeitern verlaufen, zum Beispiel die alles andere als unwichtige Frage, ob Aktivisten des Front National aus Gewerkschaften ausgeschlossen werden sollten oder nicht. Der Terminus »die Arbeiter« verdeckt zudem die Frage, in welcher sozialen Lage überdurchschnittlich häufig der Front National oder auch Trump, die AfD oder in einem Land fast ohne soziale Notlagen wie der Schweiz die Volkspartei gewählt werden. Alles, was man dazu lesen kann, deutet darauf hin, dass das eher jene tun, denen ein gewisser sozialer Aufstieg geglückt ist, die Wohneigentum besitzen, höhere Einkommen oder Renten beziehen. Man kann, davon bin ich überzeugt, das Faschistoide gar nicht mit mehr günstigen Sozialwohnungen, Rentenerhöhungen oder besserem öffentlichen Nahverkehr eindämmen. Das ist gar nicht der Faschistoiden erstes und nicht einmal ihr zweites Motiv.
Und sie sind eben nicht lediglich relativ passive Wähler, sie sind aktiv. Sie gehen, ich bleibe beim französischen Beispiel, aktiv vor, wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe sich in ihrem Quartier ansiedeln wollen. Das muss nicht immer physisch gewaltsam sein, sie können auch den Besitzern von Einzelhandelsgeschäften zu verstehen geben, dass sie woanders einkaufen werden, sollten jene es wagen, einen »Ausländer« hinter dem Verkaufstresen zu plazieren. Sie sind, kurzum, Täter des Alltags. Im übrigen sollte man wirklich nicht übersehen, wie viele Selbständige, Hochgebildete, Bauern, Mittelständler, Apotheker schon lange treue Wähler des Front National sind. Wogegen die Notwehr zu leisten glauben, interessiert mich nicht die Bohne.
Wenn ich als analytischen Ausgangspunkt ernst nehme, dass es eine weitgehende Übereinstimmung von rechter Propaganda und den Sehnsüchten der Wähler gibt, dass also Trump-Wähler gegen die bekannten Enthüllungen resistent waren, weil sie die Mauer gegen Mexiko und die versprochenen Massenabschiebungen wollen, dass sie so ein Waterboarding auch gerne mal live im Fernsehen geboten bekämen, dass ihnen all die in Aussicht gestellten Enthemmungen, die Befreiung von Political Correctness, das Die-Sau-Rauslassen gegen Frauenemanzipation, Schwule und Lesben gefallen, dass sie die Filme von Woody Allen nicht nur selbst nicht sehen, sondern aus der Welt geschafft wissen wollen – diese Intellektualität, diese »Humanitätsduselei«, dieses Ein-Gewese-Machen um irgendeinen von der Polizei erschossenen Schwarzen –, nur dann kann ich die Komplizenschaft begreifen zwischen Führern und Gefolgschaft. Nur dann kann ich verstehen, ohne zu verzeihen.
Damit sind wir bei Christian Baron. Sein hier in Frage stehendes Buch trägt den Titel Proleten – Pöbel – Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Es verspricht, ihr ahnt es schon, »das größte Tabu der linken Bewegung« zu brechen. Dieses Versprechen ist, wie wir wissen, das sicherste Indiz dafür ist, dass der Autor im Mainstream schwimmt. Christian Baron ist Feuilletonredakteur beim Neuen Deutschland, kann gut und verständnisvoll mit Deklassierten aller politischen Couleur plaudern, besonders beim Bierchen am Tresen: »Tatsächlich spielt sich bis heute in den kleinen Kaschemmen das ehrlichste Leben ab, das man sich nur vorstellen kann.« Gelitten hingegen hat er viel, besonders im Moloch Berlin, unter Linken, die ihn mit »identitätspolitischen Verbotsorgien« und »sprachpolizeilichen Gewaltmonopolen« drangsaliert haben. Daraus und aus weiteren Beobachtungen von Massenfeindlichkeit schöpft er die titelgebende Kernthese des Buchs. Drei Zitate: »Die deutsche Linke ist also nicht ganz unschuldig an der derzeit zu beobachtenden Eskalation der gegen die Flüchtlinge gerichteten Grundstimmung im Land.« – »Ein Votum für den Rassismus aber lässt sich daraus nicht ableiten, die Prekären wählen AfD aus Protest gegen den von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen vertretenen Neoliberalismus.« (Das hat mich ein bisschen beruhigt, es mindert meine Schuld ein wenig, denn die gegen die Flüchtlinge gerichtete Grundstimmung, die ich verursacht habe, ist demnach kein Rassismus, sondern Protest.) Doch haben die Linken »den Arbeitern bereits zu lange keine politische Stimme mehr verliehen. So weiträumig sind sie vom handelnden Subjekt zum Abschaum deklassiert worden, dass es verwundert, wie wenige von ihnen sich bislang der AfD oder sogar noch weiter rechts stehenden Gruppierungen angeschlossen haben.« Eine Warnung: Noch eine massenfeindliche Demo von Linken, und die NPD zieht an der AfD vorbei.
Das alles ist so absurd, dass es an die Behauptung grenzt, es sei vor 25 Jahren die winzige Minderheit, die unter der Parole »Nie wieder Deutschland« demonstrierte, verantwortlich gewesen für die Wiedervereinigung und den zugehörigen Jubel der Massen. Obwohl ich weiß, dass man dem Wahn einen Anstrich von Vernunft verleiht, sobald man ihm mit empirischen Argumenten begegnet, will ich mich für einen Moment auf die Anklagebank setzen, vor dieses Gericht, das ich nicht anerkenne. Ich erkläre also für mich und alle Polemiker, Satiriker, Theoretiker und Kabarettisten, die ich wertschätze: Ich habe immer polemisiert gegen jene, die »die Prekären« fertigmachen, verachten, dämonisieren, sich über deren »falsche« Ess- und Trinkgewohnheiten echauffieren, sie in widerwärtigen Comedy-Serien verunglimpfen und in Fernsehserien, die vorgeben, aus dem Leben gegriffen zu sein, sie erniedrigen, wie etwa Sloterdijk das tut. Auch hatte die Vers- und Kaderschmiede, mein theatralisches Projekt, immer die Facette, eine Perspektive der Gedemütigten einzunehmen. Meine Bemühungen, durch Bündnisse und Kooperationen mit Gewerkschaftsgliederungen eine lohnarbeitende Klientel ins Theater zu locken, waren so groß wie ihr Erfolg oft gering. Allerdings muss ich zugeben, dass ich dabei der Vorgabe von Christian Baron nicht gefolgt bin. Er schreibt: »Ein Theater, das den Anspruch aufgegeben hat, die Massen zu begeistern, schafft sich völlig zu Recht selbst ab.« Ich halte das Gegenteil für richtig: Ein Theater und eine Literatur, die die Massen, so wie sie sind, begeistern und also Bestseller sein wollen, begraben sich selbst, indem sie das Widerständige und Utopische, das der Kunst innewohnen kann, liquidieren und damit die Menschen betrügen, also nicht als die behandeln, die sie sein könnten und heute nicht sind.
Ferner möchte ich zum Beweis meiner Unschuld vor diesem Gericht anfügen, wie sehr ich verbunden bin mit jenen, die als Aktivisten oder Anwälte für Flüchtlinge, als Stadtteilaktivisten, als zunehmend abgewertete Sozialarbeiter oder linke Gewerkschafter tätig sind. Wer mit ihnen ernsthaft diskutiert, hört, wieviel Auf-der-Stelle-Treten, wieviel Nicht-weiter-Wissen ihrer Arbeit eigen ist. Ich komme ja selbst ebenfalls aus proletarischen beziehungsweise subproletarischen Verhältnissen und habe nie ein Gymnasium oder eine Uni besucht. Ich durfte also kennenlernen, wie sich klein- und bildungsbürgerlicher Dünkel anfühlt. Irgendwann standen dann trotzdem ein paar Karrieretüren offen, durch die ich nicht gehen wollte. Und so landete ich in dem hunderttausendfachen Heer, ich bin ein typisches Kind der Künstlersozialversicherung geworden, empfinde finanziellen Engpass keineswegs als Bereicherung, halte Geldmangel nicht für eine Produktivkraft künstlerischen Schaffens und flenne dennoch darüber nur selten. – Nur heute mal, ausnahmsweise, vor Gericht.
Zu meinen Beschädigungen gehört, dass, wenn ich mal auf junge linke Menschen treffe und mit ihnen diskutiere, ich meist nicht ganz unbefangen bin, sondern ihre zukünftige Anpassung schon antizipiere. Das gilt für Kleinbürger oder Kinder wohlhabender Eltern, aber auch für einen jungen Arbeiter, der sich durch kämpferischen Mut auffällig macht und vielleicht sogar eine Perspektive als freigestellter Betriebsrat, Gewerkschaftssekretär oder später sogar im Aufsichtsrat in Aussicht hat. Ich bin, um es abzukürzen, insgesamt zu dem Schluss gekommen, dass die Beschädigungen, die auf bürgerliche Herkunft zurückzuführen sind, weder größer noch kleiner sind als jene, die von proletarischer Herkunft herrühren. Es sind nur andere.
Was nun die Szene betrifft, von der Christian Baron sich so drangsaliert fühlt: Selbstverständlich ist dort, wo sich Linke, Diskurstheoretiker, Dekonstruktivisten oder der linke Flügel der Postmoderne tummeln, also gesamtgesellschaftlich betrachtet in einem Fingerhut, viel Kraut und Rüben unterwegs. Die Tendenz gefällt mir nicht, denn dort, wo an den Unis noch kleine Segmente der brotlosen Kunst ohne Standortnützlichkeit geduldet werden, sind oft Lehrende, die der Kritischen Theorie und dem Marxismus verpflichtet waren, systematisch durch schlechtere ersetzt worden. Das ist so. Und selbstverständlich gibt es da viel Ärgerliches, viel Kritikwürdiges, kleinbürgerliche Selbstüberhöhung durch kritischen Konsum, Lifestyle und postulierten Hedonismus, der abgearbeitet wird an Wochenenden und bei dem niemand auf seine Kosten kommt; auch viel Skurriles findet man da in den Debatten etwa über richtige Schreibweisen oder die vegane Weltrettung oder die Critical Whiteness. Ja, das ist alles auch umstritten, und zu jedem Thema gibt es kluge Positionen. Man spaltet sich an solchen Fragen, weil sie ernst sind. Ich muss mich da überhaupt nicht heimisch fühlen und kann zugleich bedenken, dass es zum Wesen von Subkulturen gehört, dass sie sich abschotten müssen in feindlicher Umwelt und manchmal auch sonderbar sein müssen, oft ganz harmlos sonderbar wie etwa die Weltverbesserer durch Ausdruckstanz im Jahre 1910 am Monte Verità. Ich könnte ausnahmsweise sogar vieles, was Baron gegen dieses Milieu ins Feld führt, akzeptieren, wenn es nicht eben, und das ist der Kern, ein Projektionsgefäß wäre für den geschürten reaktionären Wahn.
Es ging doch auch in unserer Vergangenheit, sagen wir, bei der ersten Frauenkneipe in Hamburg oder bei der Hafenstraße oder noch früher bei den Hippies oder Gammlern nicht darum, wie es bei ihnen zuging oder für wie subversiv sie sich selbst hielten, sondern darum, was reaktionäre Männer glaubten, wie’s da zugeht, was ihnen da geraubt wird, warum das verboten gehört, warum sie das zusammenschlagen müssen. Die Forderung, die »soziale Frage« in den Mittelpunkt linker Politik zu rücken, enthielte ja durchaus Richtiges, aber sie geht fast immer einher mit rechter Positionierung im sogenannten Kulturkampf, hat also eine Stoßrichtung gegen den »dünnen Firnis der Zivilisation« (Erich Fromm) und wird dadurch regressiv. Dazu drei Beispiele aus Barons Buch, die mit der »sozialen Frage« gar nichts zu tun haben:
Erstens, es geht um die Mahnwachen und den Friedenswinter: »Welch trauriges Schauspiel: Da gehen in einem ohnehin demonstrationsmüden Land endlich mal wieder Zehntausende auf die Straße, weil sie spüren, dass da gewaltig etwas in die falsche Richtung läuft, und was glaubt die Lifestyle-Linke tun zu müssen? Sie wetteifert intern darum, wer die meisten Rechten in einer Gruppe aufzuspüren in der Lage ist, und blendet völlig aus, dass da viele Menschen die weiße Fahne hochhalten, denen schnurzegal ist, was links ist und was rechts, weil sie sich einfach nur nach einer friedlichen, gerechten, sicheren Welt sehnen.« Ich denke mir, das hätte Nicole auch vertonen können. Was für eine Verharmlosung dessen, was sich da 2014 als Vorläufer von Pegida konstituierte. Was für eine Schmähung jener, die, wie Jutta Ditfurth und Teile der Linkspartei, enthüllt haben, was sich da anbahnt. Und was für eine Sehnsucht, mit Ken Jebsen und Jürgen Elsässer das Mikrofon zu teilen. Es liegt in der Logik dieser Sichtweise, wenn Baron die Pegida-Demonstranten mehrheitlich zu einem »Sammelsurium politisch völlig Verirrter« verharmlost.
Zweitens: Überhaupt, schreibt Baron, sollen Linke sich fragen, ob sie jenen, die sie verachten, nicht tief im Herzen ähnlich sind: »Was mir an so vielen linken Aktivitäten mittlerweile so übel aufstößt, ist diese Unfähigkeit, aber oft genug auch stark ausgeprägte Weigerung, die Perspektive völlig anders sozialisierter Menschen einzunehmen. Zu einem ehrlichen Selbstbild gehört ebenfalls, dass ich mich ehrlich hinterfragen muss: Würde ich mich in ähnlicher Lage nicht auch über ›Ausländer‹ echauffieren, die von ›unseren Steuergeldern‹ leben und von ›der Politik‹ hofiert werden? Wären meine politischen Überzeugungen nicht ebenso diffus gegen ›die Reichen‹ und ›die Kanaken‹ gerichtet, und wäre ich nicht ebenfalls ›stolz, ein Deutscher zu sein‹?«
Das ist, ich sage das bewusst in dieser Schärfe, die niederträchtigste und denunziatorischste Frage schlechthin. Es ist die Behauptung der kritisch von ihren Kindern befragten Nazi-Eltern: »Du hast gut reden, aber du, wir kennen dich doch, hättest gehandelt wie wir, wenn nicht schlimmer.« Es ist strukturell die nach 1945 so beliebte Frage an die Juden, ob sie nicht auch in der NSDAP gewesen wären, hätten sich die Nazis andere »Untermenschen« zur Vernichtung auserkoren. Es ist strukturell die Frage der Gesinnungsprüfung, als es noch Kriegsdienstverweigerung gab. Im scheinbar einfühlsamen Argumentieren mit der sozialen Lage liegt die Beleidigung von Menschen, die historisch und heute sich dem Barbarischen verweigern.
Drittes Beispiel: Wieder geht es nicht um Mindestlohn, Leiharbeit, soziale Frage oder ähnliches, sondern um den Vorwurf, Lifestyle-Linke könnten nicht unbeschwert mitfeiern, wenn alle einfach ganz harmlos und richtig gut drauf sind. Beim Fußballweltmeisterschaftssommermärchen zum Beispiel habe ich versagt, als ich mit hochgezogenen Schultern durchs schwarzrotgold verhängte Schanzenviertel lief und mir deutlich gemacht wurde, dass alles Lüge ist, was ein irgendwie alternatives, hedonistisches, zivilgesellschaftliches Anderssein seiner Bewohner behauptet. Meinen hilflosen Hass auf all den nationalistischen Dreck hätte ich auch ohne Adorno-Lektüre empfunden, aber es stimmt eben, dass es diese kleine Sequenz von Adorno gibt, und ich bitte, genau zu registrieren, wie Baron sie einleitet und kommentiert: »Es gibt ein Youtube-Video, in dem der Frankfurter Professor verschwurbelt über Gruppenverhalten schwadroniert.« Adorno sagt da: »Wird eine Fußballweltmeisterschaft vom Radio übertragen, so mögen selbst spektakulär verschlammte Gammler und wohlsituierte Bürger in Sakkos einträchtig um Kofferradios auf dem Bürgersteig sich scharen. Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressierten zur Volksgemeinschaft zusammen. Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.« Kommentar Baron: »Die ›hype-abstinente‹ Linke, getrieben vom Wunsch, ›den blöden Mob in seiner Lächerlichkeit darzustellen‹, holt zu diesem Zweck den Lehrstuhlphilosophen mit greiser Glatze und klobiger Brille heraus, der sich geschwollen ausdrückt und über etwas redet, wovon er keine Ahnung hat.«
Hier haben wir alles zusammen, was den kämpferischen Antiintellektualismus oder das gesunde Volksempfinden ausmacht: das verschwurbelte Schwadronieren, den Hinweis auf den Lehrstuhl – von unseren Steuergeldern finanziert –, Glatze, Brille sowie geschwollene Ausdrucksweise, die nicht talkshowkompatibel ist. Es ist ein Kompendium reaktionärer, sich auf das Argument demonstrativ nicht einlassender Vokabeln gegen Grübler, Nörgler, Miesmacher und Außenseiter. Das ist der Kern des Vorwurfs der Massenfeindlichkeit. Und es gibt Auskunft, wie die »populistischen Botschaften, die (unsere) einzige Waffe sind«, aussehen sollen. Übrigens ordnet Baron auch an: »Linke müssen sich von ihrem Bücherstudium abwenden.« Das ist die Anweisung zur Verblödung, aber immerhin verfasst von einem Buchautor, der diese despotische Botschaft nicht etwa auf den Klappentext schreibt, sondern im Schlusskapitel versteckt.
Ich komme zur Tendenz der Verteidigung des Bestehenden, zur Sehnsucht nach einem »Konsens der Demokraten«, zum Wunsch eines Aufgehens in der sogenannten Zivilgesellschaft, gerade auch in Kreisen, die sich als radikale Linke verstehen. Mein erstes Beispiel ist der Aufruf »Aufstehen gegen Rassismus«. Er enthält viele richtige Aussagen gegen die AfD. Er ist von zahlreichen Verbänden, von Gewerkschaftsgliederungen, von der kompletten Spitze der Grünen, von der Partei Die Linke sowie von der Interventionistischen Linken und der Berliner Sektion des »Ums Ganze«-Bündnisses unterzeichnet worden. Wir haben es dabei mit einer Reproduktion der Lichterketten der frühen neunziger Jahre zu tun, die sich gegen die rassistischen Pogrome und Morde wandten und sich zugleich geradezu dogmatisch darauf festgelegt hatten, dass die seinerzeitige Abschaffung des Asylrechts kein Gegenstand ihrer Umzüge sein dürfe. Der Umgang mit Flüchtlingen sollte allein Aufgabe der staatlichen Gewaltmonopolisten sein.
Der aktuelle Aufruf ist ebenfalls von dem geprägt, was er nicht enthalten darf, nämlich alle Schrecknisse etwa der diversen Asylpakete und alle Maßnahmen und internationalen Abkommen zur Wiederherstellung der Festung Europa. Exemplarisch sagt die Abgeordnete der Linkspartei, Christine Buchholz: »Differenzen in der Flüchtlingspolitik sollten nicht darüber entscheiden, ob wir gemeinsam gegen rechts demonstrieren oder nicht.« Nun verantwortet allerdings die Staatspolitik gegenwärtig ungleich größeres Leid und ungleich mehr Todesopfer, denn die Ertrinkenden im Mittelmeer sind ebenso Opfer von Staatspolitik wie jene, die abgeschoben werden und daran zugrunde gehen. Es ist falsch, einen solchen Aufruf zu unterschreiben, weil er etwas zerstört bei jenen radikalen Linken, die es besser wissen. Welchen Lohn versprechen sie sich von dem Preis, den sie zahlen? »Es geht der Interventionistischen Linken durchaus darum, um Mehrheiten zu ringen«, lese ich, und genau dieser Anspruch sei die entscheidende »Abgrenzung zur radikalen Linken der neunziger Jahre«, der »Massenverachtung attestiert« werden müsse. Und dann, zur Parole gebündelt: »Es geht darum, mehrheitsfähig zu werden.« Dieser Anspruch ist vergiftet, aber ich will hier zunächst nur feststellen, dass das gigantisch anmutende Bündnis bei seiner bundesweiten Großdemonstration eine Teilnehmerzahl von 4.000 erreichte, was der AK, das Sprachrohr der Interventionistischen Linken, so kommentierte: »Für ein Bündnis mit dieser anvisierten gesellschaftlichen Breite eine fast schon beschämende Zahl. Die inhaltliche Zahnlosigkeit hat also nicht einmal etwas gebracht.« Dafür nach Gründen zu suchen, mit einem realistischen Blick auf Zivilgesellschaft, Massen und die eigene Randständigkeit, dazu sind sie allerdings nicht in der Lage.
Mein zweites Beispiel braucht einen Umweg über Österreich, der dann aber nach Deutschland führt. Der grüne Bundespräsidentschaftskandidat (und jetzige Bundespräsident) Alexander Van der Bellen, behauptet ein Autor der Jungle World, sei ein Repräsentant der »Zivilgesellschaft«, und diese sei ein ganz schön aufregender, bunter Haufen: »Linksalternative fanden sich neben der katholischen Frauenbewegung wieder, altgediente Gewerkschafter neben einer feministischen Satirikertruppe, renommierte Schriftsteller neben jungen Wilden wie Stefanie Sargnagel und Industrielle neben Kommunisten.« Was eint diese politisch und sozial disparate Gemeinschaft, frage ich den Autor, und der antwortet: »Wenngleich knapp, haben die Optimisten gewonnen, diejenigen, die sich den wandelnden ökonomischen Verhältnissen anpassen können oder diese wenigstens nicht fürchten.«
Optimist bin ich nicht, die Doktrin des »positive thinking« halte ich für tyrannisch, Anpassung ist auch nicht meine Stärke, ich gehöre also wohl nicht zur Zivilgesellschaft. Da belehrt mich der Autor schon über weitere Eigenschaften des Milieus: »Van der Bellen ist der Kandidat für diejenigen, die mit den Verhältnissen ihren Frieden gemacht haben.« Seltsame Kommunisten und junge Wilde und Linksalternative sind das, denke ich, dann überrollt mich des Autors abgeklärter Realismus: Auch mit Van der Bellen an der Staatsspitze »werden Flüchtlinge weiterhin um fünf Uhr morgens von der Polizei in Abschiebegefängnisse verschleppt, werden andere Flüchtlinge weiterhin zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken, wird man die im Produktionsprozess überflüssig Gewordenen weiterhin demütigen«. Und?, frage ich. »Aber es wurde wenigstens ein Kandidat österreichischer Bundespräsident, der das alles nicht auch noch forcieren will«, der also, erlaube ich mir zu interpretieren, das gegenwärtige Maß an Demütigungen, Abschiebungen und Ertrinken im Mittelmeer für genau das richtige hält.
Aber Österreich hat doch bereits sehr früh von »Willkommenskultur« auf Abschottung umgeschaltet, war zentral für die Schließung der Balkan-Route, hat eine Obergrenze längst eingeführt. Höre ich den Außenminister, dünkt mir, die Faschisten sind schon an der Macht. Die Sozialdemokraten koalieren im Burgenland mit den Rechtsradikalen, die ÖVP tut’s in Oberösterreich, beide konkurrieren darum, wer mutmaßlich den Koalitionspartner der FPÖ nach den nächsten Wahlen geben darf. Österreichs Staatspolitik hat sich dramatisch nach rechts verschoben, und es fehlt jedes Indiz, dass das aufhört. Und da soll beruhigend sein, wenn das so weitergeht? Van der Bellen hat vor diesem Hintergrund zwei Parolen plakatiert: »Für unser vielgeliebtes Österreich« und »Für Österreichs Ansehen im Ausland«.
Der zitierte Autor übrigens, Bernhard Torsch, gibt eine in seiner Logik schlüssige, auch Deutschland betreffende Generallinie aus: »Realpolitisch« – das ist das Credo aller Anpassung, Sätze, die so anfangen, kann man in die Tonne treten – »muss sich hinter Angela Merkel stellen, wer weiß, dass die einzig realistische Alternative zu ihr diejenige ist, die den Zusatz ›für Deutschland‹ im Namen trägt, die AfD. Noch nicht verrückt gewordene Linke haben also auch in Deutschland nur die Wahl …, nämlich die Barbarisierung durch die Unterstützung der Kandidatin der bestehenden Verhältnisse zu bremsen.« Als könne die Barbarisierung nicht der demokratischen Politik innewohnen, als gäbe es all die praktischen und rhetorischen Übungen, die das Wahlvolk beschwichtigen und ihren Wandel von der »Wir schaffen das«- zur Abschiebekanzlerin deutlich machen sollen, nicht, ihren Schulterschluss mit Seehofer, den man übrigens in Bayern wählen müsste, um dem Anforderungsprofil eines »nicht verrückt gewordenen Linken« zu entsprechen. Das ist die Logik der abschüssigen Bahn. Das ist die Perspektive der Unterstützung des Ultrareaktionärs François Fillon in Frankreich. Vielleicht – ich werde ungerecht – ist nach dieser Logik irgendwann auch Viktor Orbán gegen die Nazis von Jobbik zu unterstützen.
Im Ernst: In Deutschland ist jeden Tag zu beobachten, dass das Faschistoide aus der sogenannten Mitte legitimiert wird. So ein mehrseitiges, wohlwollendes, ihn als vielleicht kauzigen, aber doch auch belesenen rechten Intellektuellen, der nicht einmal den Holocaust leugnet, schilderndes Porträt des völkischen Aktivisten Kubitschek im Spiegel ist doch ein deutliches Signal dieser Tendenz. Ich will mich prognostisch zurückhalten, aber es ist wahrscheinlich, dass sich mittelfristig durchsetzen wird, was Peter Radunski, der die Wahlkämpfe von Helmut Kohl geleitet hat und ein echter Vordenker ist, vorschlägt: Mit der AfD sei »im parlamentarischen Prozess zusammenzuarbeiten« – in absehbarer Zeit »sollte die AfD nach Koalitionsbeteiligungen gefragt werden«, gefordert seien »Kraft, Mut und Weitsicht, um diesen Schritt mit der AfD zu gehen«.
Vielleicht ist so eine prognostische Spekulation gar nicht wichtig. Ich sehe nach dem Terroranschlag in Berlin eine Sendung wie Hart aber fair. Es ist kein AfDler dabei, aber alle reden so wie die, alle reden, als wären nur AfDler anwesend. Außer Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, dem die Rolle des reumütigen und selbstkritischen Sünders zugewiesen war, die er gab, weil er mal was gegen Videoüberwachung gesagt hatte. Und um das ein bisschen auszubügeln, verlautbarte er dann nach dem Kölner Polizeieinsatz zu Silvester 2016/17, keiner vertraue ab jetzt so bedingungslos der Polizei wie er.
Simone Peter (Grüne) hatte ja zaghaft erwogen, es könne sich bei diesen Polizeiaktionen in Köln um racial profiling gehandelt haben. Die Empörung, die ihr entgegenschlug, hat sie belehrt, dass man heutzutage entweder ein paar Wahrheiten aussprechen oder Karriere machen kann. Ihre Entschuldigungen waren dementsprechend herzzerreißend, stehen aber immer noch auf dem Prüfstand der Glaubwürdigkeit. Kurzum: Was der Chef der AfD im Berliner Abgeordnetenhaus sagte, trifft den Nagel auf den Kopf: »Ob CDU, CSU oder SPD, ob Sahra Wagenknecht oder Boris Palmer, sie alle bedienen sich großzügig bei der AfD. Dazu kann ich nur sagen: Die AfD wirkt. Wir haben nichts dagegen.«
Dass »die nächste Barbarei durchaus das fortbestehende Imperium der Zivilisation selbst sein kann«, ist ein Schlüsselgedanke bei Herbert Marcuse. Das wird mancher mit Blick auf das heutige Deutschland für übertrieben halten. Aber als minimale Aufgabe möchte ich festhalten, dass jenen progressiven und sich von reaktionären Entwicklungen überrollt sehenden Menschen in anderen Ländern, die sich von Merkel und Deutschland erhoffen, dieses möge ein Wall oder Stabilitätsfaktor gegen barbarische Tendenzen sein, widersprochen werden muss. Wo immer wir bei denen Gehör finden, müssen wir diese Fehldiagnose dementieren. Hermann Gremliza macht das Monat für Monat.
Was also tun? »Der Begriff ›links‹ bedeutet nichts mehr«, schreibt Rainer Trampert. Das stimmt. Und neben der Tatsache, dass der Keynesianismus an die Stelle der Gesellschaftskritik getreten ist, dass die Sehnsucht nach dem ganz anderen durch die Verbesserung des Bestehenden ersetzt wurde, muss angenommen werden, dass ein völkischer Nationalismus prägen oder mitprägen wird, was öffentlich als »links« wahrgenommen werden wird. Auszusprechen, dass eine Ordnung, die immer nur Sieger und Besiegte ermittelt, auch die unteren Schichten »nicht nur mit Haut und Haaren beschlagnahmt, sondern nach ihrem Ebenbild erschafft«, dass »Herrschaft in die Menschen einwandert« und viele »entmenschlicht«, wie Adorno es in seinen »Reflexionen zur Klassentheorie« nannte – dies auszusprechen gilt nicht als systemkritisch, sondern als »massenfeindlich«. Deshalb ist das auf der Hand liegende größte Manko dieses Vortrags, dass er kein Erfolgsversprechen enthält, außer dem, aus einer winzigen Minderheit vielleicht eine etwas größere zu machen. Ich stelle also unfreiwillig und nicht, weil ich eine schöne Seele oder ein Liebhaber heroischer Posen wäre, gegenüber den wirklich großen Entwicklungen meine und meines Lagers Ohnmächtigkeit fest.
Ich gebe zu, dass mich Autoren, die ich für kluge halte, die ich lese und die ich wertschätze, gegen sich aufbringen, wenn sie sich in der Pflicht sehen, zum Abschluss ihrer lesenswerten Arbeiten noch eine mutmachende Passage einzubauen. Markus Metz und Georg Seeßlen etwa, wenn sie am Schluss ihres Buches Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge, all ihr analytisches und schriftstellerisches Können unterschreitend, formulieren: »So sieht sich die Zivilgesellschaft, ohne die es keine Demokratie geben kann, von allen Seiten, von innen wie außen bedroht. Vielleicht ist sie stärker als ihr Ruf. Jenen, die Grenzen und Augen schließen, ist entgegenzuhalten, dass die Zukunft offen ist. Und das ist wunderbar. Das ist der Tanz der Zivilgesellschaft, in Europa und darüber hinaus. Dieser Tanz der offenen Zukunft ist von vielen Seiten gefährdet. Umso wichtiger wird er.« Ich leg’ gleich eine Platte von Hannes Wader auf.
Die Feststellung von Ohnmächtigkeit bedeutet keineswegs Abstinenz von Praxis, sondern Praxis im Bewusstsein, dass diese in konkreter historischer Situation mit einem Ringen um Hegemonie nichts zu tun hat, sondern Flaschenpost-Praxis ist. Der Begriff der Flaschenpost, wie von der Kritischen Theorie benutzt, bekennt, dass das, was man an der Gesellschaft kritisch begreift und womit man die Notwendigkeit ihrer Überwindung begründet – Minimum: der Nachweis, dass niemand auf der Welt hungern müsste, niemand unbehaust, von elementaren Konsumgütern und medizinischer Versorgung abgeschnitten sein müsste, Maximum: die Möglichkeit enorm reduzierter Arbeitszeit oder eine menschengerechte Art des nicht der Effizienz gehorchenden Arbeitens –, dass das keinen dem Kritiker bekannten Adressaten hat, kein revolutionäres Subjekt. Das impliziert, wie bei Flaschenpost üblich, die Hoffnung auf einen späteren, in der Gegenwart unbekannten Empfänger.
Ich will versuchen, diesen Begriff von Praxis, die eingestandenermaßen über keine Strategie verfügt, mit einigen Zitaten aus Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch herzuleiten und zu konkretisieren. »Die dialektische Theorie ist nicht widerlegt«, schreibt er, »aber sie kann kein Heilmittel bieten.« Sie könne »die geschichtlichen Möglichkeiten, ja Notwendigkeiten« einer befriedeten Welt aufzeigen, aber nicht die Potentiale in der Gesellschaft, die nach ihrer Realisierung streben. Deshalb spricht »aus theoretischen wie empirischen Gründen der dialektische Begriff seine Hoffnungslosigkeit aus«. Denn: »Ohne diese materielle Gewalt (der praktischen Rebellion) bleibt auch das geschärfteste Bewusstsein ohnmächtig.« Der Schluss dieses großartigen Buches lautet: »Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und dem Zukünftigen überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben. Zu Beginn der faschistischen Ära schrieb Walter Benjamin: Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben.«
Wer sind die Repräsentanten der großen Weigerung und die Hoffnungslosen? Zuerst denke ich an jene Linken, Progressiven, Modernen, die machtlos eingeklemmt sind, wo das Falsche gegen das Falsche kämpft. Etwa die sehr kleine Gruppe in Ägypten, die schuldlos absolut nichts zu bestellen hat, die sich kaum rühren kann, wo die wirkmächtige Schlacht zwischen Militärdiktatur und Muslimbrüdern tobt. Ähnliches gilt für viele Länder. Niemand sollte da nach Fehlern suchen. Mit dem Rücken zur Wand steht die türkische Linke da. Mit ihnen, möglichst auch praktisch, verbunden zu sein und sie nicht nach dem Maßstab von Erfolg und Misserfolg zu beurteilen, ist zentral.
Zweitens, und hierbei handelt es sich nicht um Repräsentanten der großen Weigerung, aber der Hoffnungslosigkeit, von der Walter Benjamin sprach: die Flüchtlinge. Nichts ist isolierter, aussichtsloser, marginaler, chancenloser als der Wunsch, 2017 möge ein Jahr sein, in dem es noch einmal eine Million nach Deutschland schafft. Der Ausdruck dieses Wunsches ist oft nur eine hilflos symbolische Geste, die ich verteidige. Wenn die bayerische Antifa ein Sommercamp in einer mittelgroßen Stadt mit zentralen Flüchtlingseinrichtungen und Abschiebeknast veranstaltet, dann erlebt sie, dass es praktisch keinen Kontakt mit der örtlichen Bevölkerung gibt, die die Rolläden runterlässt und die Ruhestörung missbilligt. Dadurch fällt auf die Aktion kein Makel, weil sie ein Merkposten ist, eine praktische Flaschenpost war. Und den gleichen Posten markieren jene, die, sagen wir: in Thüringen mit seinem linken Landesvater, gegen die Abschiebungen Richtung Westbalkan protestieren. Auch sie sind wenige und isoliert und wertvoll.
Drittens ist praktisches Handeln immer möglich zur Rettung einzelner. Ohnmächtigkeit ist ein nicht so leicht zu verkraftender Zustand. Ich sage das als jemand, der wirklich nicht gramgebeugt durch die Gegend läuft. Ich bin überzeugt, dass das jüdische Wort, nach dem, wer einen Menschen rettet, die Menschheit rette, ganz und gar zutrifft. Und wenn überwältigende Mehrheiten einverstanden sind, dass in einer Aktion, die jetzt anläuft, zu überprüfen sei, welcher Flüchtling sich hier mit falscher Identität aufhalte und deshalb auf die Liste der Abzuschiebenden in diese absurderweise sichere Herkunftsländer genannten Höllen gesetzt gehöre, dann sind, wie wenige das auch sein mögen, Passfälscher, Falsche-Identität-Besorger, Falsche-Attest-Aussteller, progressive Fluchthelfer, Illegalen-Zugang-zu-medizinischer-Versorgung-Ermöglicher, Menschenverstecker zu ehren. Niemand möge sich durch diese Feststellung erpresst fühlen zu Mut oder Tollkühnheit, die ihm oder ihr – oder mir – nicht entspricht. Schon Spenden in diese Richtung drückt ja eine Haltung aus. Politisch gesprochen wünsche ich mir ein Bündnis zwischen Gesellschaftskritikern und konsequenten Humanisten.
Nein, das ist nicht alles, ich weiß, wir demonstrieren weiter im Handgemenge. Aber ohne diesen Aspekt ist alles wertlos. Ansonsten gilt, was Herbert Marcuse nach langem Nachdenken als Inschrift auf seinem Grabstein verfügte: weitermachen.
Der Autor dankt Jannik Eder für Hilfe bei der Recherche.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Thomas Ebermann am 16. Januar 2017 im Hamburger Polittbüro gehalten hat. Er erschien zuerst in zwei Teilen in konkret 3/17 und 4/17.
Literatur
Slavoj Žižek: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror. Ullstein, Berlin 2015, 96 Seiten, 8 Euro ↩
Stephan Hebel: »Sehr geehrter AfD-Wähler, wählen Sie sich nicht unglücklich.« Ein Brandbrief. Westendverlag, Frankfurt a. M. 2016, 64 Seiten, 8 Euro ↩
Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Campus, Frankfurt a. M. 2016, 292 Seiten, 19,95 Euro ↩
Sebastian Chwala: Der Front National. Geschichte, Programm, Politik und Wähler. Papyrossa, Köln 2015, 143 Seiten, 12,90 Euro ↩
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp, Berlin 2016, 240 Seiten, 18 Euro ↩
Christian Baron: Proleten – Pöbel – Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Das Neue Berlin, Berlin 2016, 288 Seiten, 12,99 Euro ↩
Markus Metz/Georg Seeßlen: Hass und Hoffnung. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge. Bertz + Fischer, Berlin 2016, 260 Seiten, 9,90 Euro ↩
Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Zu Klampen, Springe 2014, 296 Seiten, 24 Euro ↩